Bereits am kommenden Samstag könnten die EU-Mitgliedsstaaten den Plan der EU-Kommission beerdigen, den Pestizidverbrauch in der Europäischen Union bis 2030 zu halbieren. Davor warnten heute in Brüssel Wissenschaftler, Umweltorganisationen und der Bio-Dachverband Ifoam Organics Europe. Die Kommission versucht nach Angaben des Nachrichtenmagazins Euractiv, das Schlimmste mit einem politischen Tauschhandel zu verhindern: weniger Pestizide, dafür mehr Gentechnik.
Schon seit Monaten laufen Agrarlobby und konservative Politiker Sturm gegen das von der EU-Kommission in ihrer Landwirtschaftsstrategie „Farm to Fork“ festgelegte Ziel, den Pestizidverbrauch in Europa zu halbieren. Als Argument dienen ihnen die steigenden Lebensmittelpreise und die durch den Ukrainekrieg angeblich gefährdete Ernährungssicherheit. Im Juni 2022 schlug die Kommission eine Verordnung für den nachhaltigen Einsatz von Pestiziden (SUR) vor: mit dem 50-Prozent-Ziel und einem weitgehenden Anwendungsverbot in Schutzgebieten. Immer mehr Mitgliedsstaaten lehnten in den folgenden Monaten die Pläne ab. Im Ausschuss der Ständigen Vertreter am 16. November beantragten zehn Mitgliedsstaaten, vor allem aus Osteuropa, eine erweiterte Folgenabschätzung. Dies könnte zur Folge haben, dass die SUR-Verordnung nicht mehr rechtzeitig vor dem Ende der Amtsperiode der Kommission beschlossen wird – und damit erst einmal verhindert wäre. Die nächste EU-Kommission, die im Herbst 2024 ihr Amt antreten wird, müsste den Vorschlag neu einbringen.
„Aus den uns vorliegenden internen Protokollen geht hervor, dass eine Mehrheit der Mitgliedstaaten (Österreich, Bulgarien, Estland, Finnland, Griechenland, Ungarn, Irland, Italien, Litauen, Luxemburg, Lettland, Malta, Polen, Portugal, Rumänien, Slowakei, Slowenien) für eine erneute Folgenabschätzung ist“, schrieb die Umweltorganisation Global 2000. Allerdings wollten fünf von ihnen noch weiter mit der Kommission verhandeln. Doch die tschechische Ratspräsidentschaft ist laut Global 2000 entschlossen, den Antrag abstimmen zu lassen. Dies soll am Samstag, den 10.12. im Ausschuss der Ständigen Vertreter geschehen. Deren Votum würde dann nur noch formal von den Agrarministern bestätigt.
Joseph Settele, Co-Vorsitzender des Weltbiodiversitätsrates (IPBES) warnte davor, die Kommissionspläne aufzuschieben. Schon jetzt würden die globale Erwärmung und der Verlust der biologischen Vielfalt die Ernteerträge und Lebensgrundlagen weltweit beeinträchtigen. „Das Zeitfenster, in dem wir durch entschlossenes und gezieltes Handeln eine lebenswerte Zukunft auf diesem Planeten sichern können, schließt sich schnell“, sagte Settele. Den Einsatz chemisch-synthetischer Pestizide zu verringern sei „unerlässlich, um die natürlichen Ressourcen zu schützen, auf die wir für die Erzeugung unserer Lebensmittel angewiesen sind“, mahnte Jan Plagge, Präsident von Ifoam Organics Europe. Ramona Duminicioiu von der rumänischen Kleinbäuer:innen-Vereinigung Eco Ruralis erinnerte daran, dass weniger Pestizide die Produktionskosten senken würden und „zur Gesundheit der Umwelt, der Verbraucher:innen und der Menschen beitragen, die mit diesen giftigen Stoffen arbeiten oder in direkten Kontakt kommen“. Die österreichische Umweltorganisation Global 2000 rief ihre von den Grünen mitgetragene Regierung auf, ihre „Blockadehaltung sofort zu beenden“. Deutschland dagegen gehört zusammen mit Frankreich und Spanien zu den Ländern, die die Kommissionspläne weiterhin unterstützen und zum 50-Prozent-Ziel stehen. Laut dem Nachrichtenportal topagrar will Agrarminister Cem Özdemir 2023 sein eigenes Pestizidreduktionsprogramm vorlegen.
Die Kommission versuchte in den vergangenen Wochen anscheinend, ihre Pläne mit anderen Mittel zu retten. Sie „setzt offenbar darauf, Kritiker:innen ihrer Pläne zum Abbau von Pestiziden zu beschwichtigen, indem sie eine mögliche Liberalisierung neuer Gentechniken in Aussicht stellt“, schrieb das Nachrichtenportal Euractiv. Es beruft sich dabei auf einen Brief der EU-Kommissarin für Lebensmittelsicherheit und Gesundheit, Stella Kyriakides, an den Vorsitzenden des Landwirtschaftsausschusses im Europäischen Parlament, Norbert Lins. Lins und seine Europäische Volkspartei (EVP), zu der auch die CDU gehört, lehnen den SUR-Vorschlag ebenso ab wie die 17 EU-Mitgliedsstaaten. Laut Euractiv betonte Kyriakides in dem Brief, dass der SUR-Vorschlag keine isolierte Maßnahme sei. „Insbesondere erwähnte die Kommissarin dabei einen bevorstehenden Vorschlag der Kommission zum Gentechnik-Rechtsrahmen der EU“, heißt es bei Euractiv. Da dieser Vorschlag noch nicht ausgearbeitet ist, interpretiert Euractiv das als politische Botschaft: Kommen die konservativen Parteien und Regierungen der Kommission bei der Pestizidreduktion entgegen, könnte der Vorschlag zur neuen Gentechnik großzügiger ausfallen. Dass die Kommission grundsätzlich in solchen Zusammenhängen denkt, zeigte sich vor drei Wochen bei einer Anhörung im Europäischen Parlament zur Neuen Gentechnik. Dort hatte eine hohe Beamtin aus Kyriakides Behörde die grüne Abgeordnete Sarah Wiener fast angefleht, die SUR-Pläne der Kommission bei den Mitgliedstaaten mit ihren Argumenten zu unterstützen. Den Gentechnikkritiker:innen müsste sie dafür aber einen anderen Deal anbieten: das strenge EU-Gentechnikrecht auch für neue Technologien beizubehalten. [lf]