Nachdem die Europäische Kommission am Mittwoch in Brüssel ihren Plan veröffentlicht hat, bestimmte Produkte neuer gentechnischer Verfahren wie konventionell gezüchtete zu behandeln, fürchten gentechnikfreie Lebensmittelwirtschaft und Züchter in der Europäischen Union (EU) um ihre Existenz. Betroffen sind konventionelle wie ökologische Betriebe. Letztere setzen in der EU mehr als 50 Milliarden Euro pro Jahr allein mit Biolebensmitteln um. Agrar-, Umwelt- und Verbraucherverbände warnen, dass Gentechnik-Pflanzen künftig unerkannt in Umwelt und Lebensmittel gelangen könnten.
„Würde der Entwurf der EU-Kommission Gesetz, wäre das das Ende der gentechnikfreien Landwirtschaft und Lebensmittelproduktion in Europa“, prognostizierte Heike Moldenhauer vom europäischen Industrieverband ENGA vorgestern bei einer Veranstaltung der Grünen im europäischen Parlament (EP). „Es wäre das Ende der Wahlfreiheit für Verbraucher:innen und Wirtschaftsbeteiligte.“ Nach ihrer Einschätzung gäbe es damit für 95 Prozent aller mit neuer Gentechnik (NGT) veränderter Pflanzen keine Risikobewertung mehr; Lebensmittel, die sie enthalten, würden nicht mehr gekennzeichnet. ENGA vereint konventionelle Lebens- und Futtermittelunternehmen, die sich freiwillig zu einem Ohne-Gentechnik-Siegel verpflichten.
Gesetzliche Pflicht ist die gentechnikfreie Produktion für Biobetriebe. Die Branche ist zwar froh, dass NGT-Pflanzen für Bioprodukte verboten bleiben sollen. Diesen Wunsch habe die EU-Kommission im Entwurf berücksichtigt, sagte Eric Gall, stellvertretender Direktor des europäischen Bioverbands Ifoam im EP. Doch um die gentechnikfreie Bioproduktion weiterhin sicherstellen zu können, müssten alle NGT-Pflanzen entlang der gesamten Produktionskette gekennzeichnet werden. Außerdem sei bislang völlig ungeklärt, wie ökologisch bewirtschaftete Felder vor gentechnischen Verunreinigungen aus der Nachbarschaft geschützt werden sollen, kritisierte der Verband. Risiken und Lasten müssten gerecht verteilt, also Informations- und Haftungsfragen geregelt werden. Bislang will die EU-Kommission beides den EU-Mitgliedstaaten überlassen.
Doch nicht nur die Produktion, auch das „europäische Innovationsmodell der Züchtung“ sieht Ifoam bedroht. Nach dem vorgelegten Entwurf „wären eine gentechnikfreie Züchtung und Saatgutarbeit, ob konventionell oder ökologisch, langfristig nicht mehr möglich“, warnt die IG Saatgut, die Pflanzenzüchter:innen und Saatguterzeuger:innen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz vertritt. Gelockerte Regeln für NGT-Pflanzen würden zu einer „Flut von patentiertem Saatgut“ und einem „Patentdickicht“ führen, was vor allem kleine und mittelständische Züchtungsunternehmen vom Markt verdrängen würde. Profitieren würden, da sind sich alle Kritiker:innen einig, vor allem die großen Agrarkonzerne, von denen aktuell vier den Großteil des weltweiten Saatgutmarktes beherrschen.
Die EU-Kommission hält alle Probleme für lösbar – durch die Biobranche. Wahlfreiheit? Sei gegeben, denn die Menschen könnten sich darauf verlassen, dass Bioprodukte gentechnikfrei seien, sagte eine Mitarbeiterin der zuständigen Generaldirektion Gesundheit der EU-Kommission vorgestern bei einer Überzeugungstour durch EP-Ausschüsse und Veranstaltungen. Schließlich seien die Biobetriebe gesetzlich verpflichtet, das sicherzustellen, und das Saatgut werde ja gekennzeichnet, so Generaldirektorin Claire Bury. Koexistenzregeln? Das hätten die Biobauern selbst in der Hand, indem sie sich mit ihren Nachbarn über Anbaumodalitäten verständigten. Im Übrigen gehe sie davon aus, dass nur ein kleiner Teil der NGT-Pflanzen unter die Kategorie 1 im EU-Entwurf falle, die wie herkömmlich gezüchtete Pflanzen behandelt werden soll. Patente? Das wolle man bis 2026 beobachten, ob es da wirklich Probleme gebe. Die müsse die Branche erst mal beweisen. Bei Bedarf könnten die Gesetze dann auch wieder geändert oder anders ausgelegt werden.
Dazu will es eine breite Koalition von Verbänden aber gar nicht erst kommen lassen. Sie fordern die Abgeordneten des EP sowie die EU-Mitgliedstaaten auf, dafür zu sorgen, dass auch künftig die Risiken aller NGT-Pflanzen in einem Zulassungsverfahren bewertet und die Pflanzen gekennzeichnet werden, damit alle Landwirten und Verbraucherinnen frei wählen können. Denn EP und Ministerrat müssen dem Entwurf der Kommission zustimmen, bevor er in Kraft treten kann. Und damit kommt auch der deutsche Agrarminister ins Spiel, dem eine Reihe von Agrar- und Umweltverbänden vorgestern einen Besuch abstatteten. Wie berichtet hat Cem Özdemir zwar bereits kritisiert, dass in dem EU-Entwurf die Koexistenz- und Patentfragen nicht zufriedenstellend geregelt seien. Den Wegfall von Risikoprüfung und Kennzeichnung bei NGT 1-Pflanzen monierte er jedoch nicht.
„Cem Özdemir muss sich auf EU-Ebene für eine konsequente Regulierung neuer Gentechnik einsetzen, denn er hat keine Möglichkeit dann im Nachhinein in Deutschland nationale Verbote für einzelne Pflanzen zu erlassen“, erinnerte Christiane Huxdorff von Greenpeace, dass der EU-Entwurf kein Opt Out der Mitgliedsstaaten für NGT-Pflanzen vorsieht. „Gentechnik-Pflanzen mit Herbizidtoleranz könnten dann in Deutschland eingesetzt werden. Das würde den Pestizideinsatz und die Umweltbelastung steigern.“ Zwar hatte Özdemir, wie meist beim Thema Gentechnik, seine Staatssekretärin vorgeschickt. Doch mit seinem Konterfei auf ihrem Transparent machten die Demonstrant:innen deutlich, wer gemeint ist mit ihrer Forderung: Gentechnikfreie Landwirtschaft retten, vom Saatgut bis zum Essen. [vef]