Ein Bündnis von 50 Organisationen hat sechs Monate lang europaweit 420.757 Unterschriften dagegen gesammelt, das EU-Gentechnikrecht zu lockern. Die deutschen Vertreter:innen überreichten sie gestern in Berlin an Umweltstaatssekretärin Bettina Hoffmann (Grüne). Die plädierte dafür, mit neuen gentechnischen Verfahren (NGT) entwickelte Pflanzen auch in Zukunft zu kennzeichnen und ihre Risiken für Umwelt und Gesundheit zu prüfen. Ein Anbau solcher Pflanzen, ließ das Bundesagrarministerium wissen, sei in seinem Leitbild einer ökologischen Landwirtschaft nicht vorgesehen.
Hoffmann griff damit zwei Forderungen aus der Petition „Kein Freifahrtschein für neue Gentechnik in unserem Essen!“ auf, die mit dem europarechtlichen Vorsorgeprinzip begründet werden. Weiter heißt es darin: Wer NGT-Pflanzen auf den Markt bringt, muss für Risiken und Folgeschäden haften. „Die durchgesickerten Pläne der EU-Kommission sind besorgniserregend“, berichtete Georg Janßen, Bundesgeschäftsführer der Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft. „Nach dem Motto: Profite für Konzerne – und Bäuerinnen und Bauern sollen auf den Schäden sitzen bleiben. Nicht mit uns.“ Das Bundesumweltministerium werde sich in Brüssel für eine Risikobewertung einsetzen, bevor mit neuen Technologien wie Crispr/Cas entwickelte Pflanzen auf deutschen Feldern angebaut werden dürfen, versicherte Staatssekretärin Hoffmann und forderte ein neues, ganzheitliches Denken in der Landwirtschaft.
Das federführende Bundesagrarministerium (BMEL) ging auf Anfrage des Infodienst Gentechnik noch einen Schritt weiter: „Für das BMEL ist der Ökolandbau das Leitbild einer nachhaltigen Landwirtschaft“, schrieb eine Sprecherin des grünen Ministers Cem Özdemir. „Der Einsatz von Agro-Gentechnik ist dabei nicht vorgesehen. Das BMEL setzt vielmehr auf ökologische und konventionelle Züchtung, um einen nachhaltigen Umbau der Landwirtschaft voranzubringen.“ Das Zulassungsverfahren für NGT-Pflanzen in der Europäischen Union müsse genauso streng bleiben wie für die Produkte der „alten“ Gentechnik. Das Ministerium werde den für 2023 geplanten Regelungsvorschlag der EU-Kommission daraufhin prüfen, ob „das Sicherheitsniveau und die Transparenz in Zukunft unverändert erhalten bleiben. Das heißt insbesondere, dass wir an einem Zulassungsverfahren mit Risikoprüfung im Einzelfall, an der stringenten Kennzeichnungspflicht und der Nachverfolgbarkeit festhalten“, schrieb die Sprecherin dem Infodienst. „Es muss sichergestellt sein, dass die Wahlfreiheit für Verbraucher:innen, Landwirt:innen sowie die Lebensmittelwirtschaft und damit auch die Koexistenz gewährleistet bleiben.“
Wozu also noch die Petition? Zum einen besteht die deutsche Ampelkoalition ja aus drei Partnern. Zwar teilt auch die SPD bei der Gentechnik die Position des BMEL. Die FDP versteht sich jedoch als Verfechterin von Innovation, will das EU-Gentechnikrecht liberalisiert sehen. Und weil sie die Forschungsministerin stellt, hat sie beim Thema neue Gentechnik ein Wörtchen mitzureden. In einem Interview mit der Agrarzeitung verwies deren Staatssekretärin heute auf „viele Vorteile, Chancen und Potenziale“ der „fortschrittlichen neuen Züchtungstechnologien“ wie Crispr/Cas. Wird Deutschland sich also wegen dieses Konflikts in der Koalition bei der Abstimmung über den erwarteten EU-Vorschlag 2923 enthalten müssen? „Es wird nun die gemeinsame Aufgabe aller Beteiligten sein, hier zu einem guten Kompromiss zu kommen“, sagte Staatssekretärin Judith Pirscher der Agrarzeitung. „Die Ressorts arbeiten … bereits jetzt intensiv zusammen, um sich in den Prozess der laufenden Initiative der Kommission konstruktiv einzubringen“, heißt es auch vom BMEL.
2023 werden die EU-Mitgliedsstaaten sich mit einer qualifizierten Mehrheit zum Regelungsvorschlag der EU-Kommission für neue Gentechnik in der Landwirtschaft positionieren müssen. Und auf europäischer Ebene ist für die 50 Petitions-Organisationen aus Umwelt- und Verbraucherschutz sowie Land- und Lebensmittelwirtschaft noch einige Überzeugungsarbeit zu leisten. Wie der Infodienst berichtete, hatten bei der Konferenz der EU-Agrarminister im September 18 von 27 Minister:innen dafür plädiert, die Rechtsvorschriften für neue gentechnische Verfahren zu lockern. Darunter waren mit Frankreich, Italien und Spanien drei der größten Staaten der Union. Neben weiteren Übergabeterminen in einzelnen EU-Mitgliedsstaaten soll die Petition nebst Unterschriften Ende kommender Woche in Brüssel der zuständigen EU-Gesundheitskommissarin Stella Kyriakides überreicht werden. [lf/vef]