Die geplante Verordnung der Europäischen Kommission, nach der neue Gentechnik (NGT) in der Landwirtschaft weitestgehend unreguliert eingesetzt werden könnte, könnte wegen zahlreicher Rechtsfehler erfolgreich vor einem europäischen Gericht angegriffen werden. Zu diesem Ergebnis kommt ein juristisches Gutachten im Auftrag der Fraktion Bündnis ‘90/Die Grünen im Deutschen Bundestag. Als „deutliches Stoppschild für die EU-Kommission“ bewertet der Verband Lebensmittel ohne Gentechnik die Expertise und warnt vor großer Rechtsunsicherheit für Lebensmittelbranche und Verbraucher:innen.
Der europäische Verordnungsentwurf verstoße gegen das in den EU-Verträgen verankerte Vorsorgeprinzip, bringt der grüne Bundestagsabgeordnete Karl Bär das Gutachten auf den Punkt. „Vorsorgeprinzip heißt, dass Risiken bewertet und gemanagt werden“, erklärt der agrarpolitische Sprecher der Fraktion. Doch die EU-Kommission wolle die Gefahren von NGT-Pflanzen für Umwelt und Gesundheit künftig nicht mehr prüfen. Mehr als 90 Prozent der NGT-Pflanzen sollen nach ihren Plänen wie konventionell gezüchtete Gewächse ohne Risikoprüfung und Kennzeichnung bis hin zu den fertigen Lebensmitteln auf den Markt kommen.
Gutachter Georg Buchholz von der Anwaltskanzlei GGSC führt aus, dass NGT-Pflanzen allein aufgrund von Art und Zahl der Änderungen der DNA-Sequenz von der Verordnung privilegiert werden sollen. Ob die Pflanzen nützliche oder gefährliche Eigenschaften hätten, spiele keine Rolle. „Eine solche Privilegierung von NGT-Pflanzen gegenüber sonstigen GVO ist nicht gerechtfertigt, weil sowohl nach den Feststellungen des EuGH (Europäischer Gerichtshof, Anm. d. Red.) als auch nach eigener Aussage der Kommission von NGT-Pflanzen vergleichbare Risiken ausgehen können wie von sonstigen GVO“, erläutert das Gutachten. Der EuGH habe bereits mehrfach geurteilt, dass Produkte neuer gentechnischer Verfahren wie Crispr/Cas nur dann vom Gentechnikrecht ausgenommen werden können, wenn sie erfahrungsgemäß sicher sind – was für NGT-Pflanzen bislang wissenschaftlich nicht belegt sei. Daher verlange das im Vertrag von Lissabon vereinbarte Vorsorgeprinzip, dass die Risiken solcher Pflanzen für Gesundheit und Umwelt zunächst geprüft werden, so die juristische Bewertung. Da der EU-Vorschlag das nicht vorsehe, wäre eine solche Verordnung „null und nichtig“, sagte Buchholz jüngst bei einer Konferenz in Brüssel.
Um das Problem anschaulich zu mache, nennt er ein Beispiel: Ein durch NGT für industrielle Zwecke optimierter Raps, der für Menschen und Tiere giftig ist, könnte uneingeschränkt angebaut und verkauft werden, ohne dass er vorher geprüft werden müsste. Würde ein solcher NGT-Raps beim Anbau auf benachbarte Rapsfelder auskreuzen und dieser Raps zu Lebens- oder Futtermitteln verarbeitet werden, könnte das zu Vergiftungen führen. Womit sich die Frage stellt, wer dafür haftet. Der Verband Lebensmittel ohne Gentechnik (VLOG) verweist auf die Warnung des Gutachters, die geplante NGT-Verordnung führe sowohl für die Unternehmen des Lebensmittelsektors wie für die Gentechnik-Hersteller selbst zu großer Rechtsunsicherheit: Wären Gentechnik-Hersteller für Schäden verantwortlich oder alle, die die Produkte wissentlich oder unwissentlich verwenden? Müssten jedenfalls wegen der zivilrechtlichen Produkthaftung die Risiken der NGT-Pflanzen geprüft werden? Welche Versicherungen würden welche Schäden ersetzen? VLOG-Geschäftsführer Alexander Hissting appelliert an den Agrarminister: „Wenn Cem Özdemir es ernst meint mit dem Schutz von Koexistenz und ‚Ohne Gentechnik‘-Sektor, sollte er sich in Brüssel für einen kompletten Neustart statt für faule Kompromisse einsetzen.“
Auch die österreichischen Grünen sind entsetzt: Das Gutachten zeige, dass der Kommissionsvorschlag in der Praxis einer Abschaffung des bisherigen Gentechnikrechts gleichkäme, so Clemens Stammler, Landwirtschaftssprecher im dortigen Parlament. Damit falle für NGT-Pflanzen auch das nationale Anbauverbot, mahnt der grüne Agrarexperte. Mangels passender Maßnahmen ließe sich die Koexistenz von gentechnischer und gentechnikfreier Landwirtschaft künftig nicht mehr sichern. „Es wird also der Bio-Landwirtschaft überlassen sich zu überlegen, wie sie weiterhin die Gentechnikfreiheit gewährleisten kann“, kritisiert Stammler. „Am Ende bleibt der Eindruck, dass die EU-Kommission hier in Windeseile den Forderungen der Agrarindustrie nachgegeben hat. Wir müssen nun gemeinsam mit den Mitgliedstaaten und dem EU-Parlament alles daransetzen, die Umsetzung dieses Vorschlags zu verhindern.“ [vef]