Seit 1. Juli sitzt Ungarn turnusgemäß für sechs Monate dem Europäischen Rat vor. Das gentechnikkritische Land will die Debatte unter den Mitgliedstaaten der Europäischen Union über den Vorschlag der EU-Kommission neu aufrollen, die Sicherheitsregeln für genomeditierte Pflanzen zu lockern. Das zeigt ein Hintergrundpapier, das dem Informationsdienst Gentechnik vorliegt und das nächste Woche in der Ratsarbeitsgruppe zur Gentechnikregulierung diskutiert werden soll.
Im offiziellen Arbeitsprogramm der ungarischen Ratspräsidentschaft findet sich die Agrogentechnik nur in einem Satz. Ungarn strebe an, die Verhandlungen über den Verordnungsvorschlag zu neuen genomischen Techniken (NGT) fortzusetzen, heißt es da sehr zurückhaltend. Wie das Land sich das konkret vorstellt, zeigt ein sogenanntes Non-Paper, also eine inoffizielle Mitteilung der Ratspräsidentschaft an die Mitgliedstaaten. Das Papier listet die einzelnen Punkte des Kommissionsvorschlags auf, die aus Sicht der Ungarn strittig sind, und bittet die Mitgliedstaaten, Position zu beziehen.
Einer dieser Punkte ist der Anhang 1 der Verordnung. Er legt die Kriterien fest, die eine NGT-Pflanze der Kategorie 1 erfüllen muss, um als gleichwertig zu konventionellen Züchtungen zu gelten – und damit aus den Sicherheitsregeln des Gentechnikrechts ausgenommen zu werden. Hier sollen die Mitgliedstaaten mitteilen, was jenseits der Kriterien im Anhang 1 eine Basis sein könnte, um eine Gleichwertigkeit festzustellen. Dass nach dem Kommissionsentwurf in diesen Fällen die Risiken der NGT-Pflanzen nicht mehr geprüft werden müssen, ist unter den Mitgliedstaaten umstritten. Deshalb will Ungarn von ihnen wissen, ob sie sich eine vereinfachte Risikobewertung für NGT 1-Pflanzen und deren Produkte vorstellen können. Das Ziel wäre, sich auf „einige gemeinsame Aspekte für ein mögliches vereinfachtes Risikobewertungsverfahren zu einigen“, heißt es im Papier.
Beim Thema Kennzeichnung argumentiert der Ratsvorsitzende nicht nur mit der Wahlfreiheit der Verbraucher:innen, sondern auch mit dem Schutz des Ökolandbaus vor NGT-Verunreinigung. Man habe schwere Bedenken, ob der Kommissionsvorschlag, nur das NGT-Saatgut zu kennzeichnen, ausreiche, den Ökolandbau praktisch gentechnikfrei zu halten, heißt es in dem Papier. Wenn die EU-Mitgliedstaaten das Konzept des Ökolandbaus schützen wollten, müssten NGT in der gesamten Lebens- und Futtermittelkette gekennzeichnet werden. Eine Alternative dazu sei der Vorschlag einiger Mitgliedstaaten, NGT 1-Pflanzen im Ökolandbau zuzulassen. Dies widerspreche jedoch dem Konzept des Ökolandbaus wie auch den Zielen der Farm to Fork-Strategie des Europäischen Green Deal. Daher sollen die Mitgliedstaaten Auskunft geben, wie sie zu einer Kennzeichnung von NGT-Pflanzen und daraus hergestellten Produkten stehen. Weitere Punkte, bei denen die Ratspräsidentschaft sich Rückmeldungen wünscht, sind der Nachweis und die Rückverfolgbarkeit von NGT-Pflanzen, ihre angebliche Nachhaltigkeit oder das Zulassungsprozedere für Feldversuche. Nicht angesprochen haben die Ungarn die Frage der Patente. Ihre belgischen Vorgänger waren bei dem Thema erst Ende Juni mit einem Kompromissvorschlag gescheitert.
Die Antworten der Mitgliedstaaten auf die von Ungarn aufgeworfenen Fragen sollen in der für NGT zuständigen Arbeitsgruppe der EU-Staaten besprochen werden. Allerdings sind dem Vernehmen nach dafür in den nächsten Monaten nur drei Termine angesetzt: am 19.07., 10.09. und 19.11. Unter der spanischen Ratspräsidentschaft im zweiten Halbjahr 2023 hatte sich die Arbeitsgruppe zuweilen alle zwei Wochen getroffen. Die Belgier hatten die AG-Treffen zeitweise komplett ausgesetzt und im direkten Gespräch versucht, Kompromisse zu finden – beides ohne Erfolg. Beobachter:innen in Brüssel halten es deshalb für unwahrscheinlich, dass die strittigen Punkte unter ungarischer Führung tiefgründiger debattiert oder bis Ende des Jahres gar ein Ergebnis erzielt werden wird.
Danach wird die bislang ebenfalls gentechnikkritische polnische Regierung den Ratsvorsitz übernehmen. Die Lobbyorganisation Plants for the Future befürchtet: „In Anbetracht der politischen Positionen der beiden Mitgliedstaaten ist es wahrscheinlich, dass sie entweder versuchen werden, unverhältnismäßige Anforderungen in den Text einzubringen oder den Text beiseite zu legen und sich auf andere vorrangige Themen zu konzentrieren.“ Deshalb werde wohl erst Dänemark in der zweiten Hälfte des Jahres 2025 auf eine qualifizierte Mehrheit für den NGT-Vorschlag im Europäischen Rat hinarbeiten. Vorausgesetzt, das Wackeln Polens beim belgischen Kompromissvorschlag Ende Juni war kein Omen, dass die Regierung Tusk nachlassen könnte in ihrem Widerstand gegen die Pläne, die Sicherheitsregeln für NGT-Pflanzen zu lockern. [lf]