Mehr als zwei Drittel der Bundesbürger wollen, dass Glyphosat verboten wird. Das ergab eine Umfrage im Auftrag des europäischen Pestizid Aktions-Netzwerkes PAN Europe. Die europäische Koalition Stop Glyphosate forderte EU-Gesundheitskommissarin Stella Kyriakides auf, eine erneute Glyphosatzulassung zu verhindern. Laut einer aktuellen Studie der Koalition müsste Glyphosat als vermutlich krebsserregend eingestuft werden. Am 22. September will die EU-Kommission mit den Mitgliedstaaten im zuständigen Ausschuss ihren Vorschlag für eine erneute Zulassung des Herbizidwirkstoffs diskutieren. Dann muss auch Deutschland Farbe bekennen.
Die Meinungsforscher:innen des französischen Unternehmens Ipsos hatten Anfang August je 1000 Menschen in Deutschland, Dänemark, Frankreich, Rumänien, Polen und Spanien befragt. Im Schnitt sprachen sich 62 Prozent der Befragten für ein Verbot von Glyphosat aus, wobei die Zustimmung in Frankreich und Deutschland mit 70 und 68 Prozent besonders hoch war. Für eine weitere Zulassung votierten in den einzelnen Ländern zwischen 12 und 19 Prozent der Befragten. In Deutschland waren es 15 Prozent. Rund ein Viertel der Teilnehmenden hatte keine Meinung zu der Frage. Bei der Befragung wies Ipsos einleitend darauf hin, dass sich die Expert:innen derzeit nicht über die mit Glyphosat verbundenen Gesundheitsrisiken einig seien. PAN Europe erinnerte daran, dass bereits 2017 über eine Million EU-Bürger:innen die europäische Bürgerinitiative für ein Verbot von Glyphosat unterstützt hatten. Damals verlängerten die EU-Kommission und die Mehrheit der Mitgliedstaaten die Zulassung um weitere fünf Jahre. „Die Zeit ist abgelaufen, und jetzt ist es an der Zeit, diese giftige Geschichte ein für alle Mal zu beenden“, schreibt PAN Europe.
Parallel zur Umfrage veröffentlichte die europäische Koalition Stop Glyphosate eine wissenschaftliche Arbeit, wonach die europäische Chemikalienagentur ECHA die krebserregende Wirkung von Glyphosat falsch bewertet habe. ECHA habe die in Krebsstudien beobachtete Häufigkeit von Tumoren als irrelevant abgetan und alle Hinweise außer Acht gelassen, dass Glyphosat oxidativen Stress verursache. Dieser Stress könne anerkanntermaßen Krebs auslösen, argumentierten die Verfasser der Studie. Dies führe „zu sehr schwerwiegenden Mängeln bei der Bewertung der potenziellen Gefahren von Glyphosat und der ihnen zugrunde liegenden Mechanismen“, sagte der Toxikologe Peter Clausing, einer der Autoren. In einem Schreiben informierte Stop Glyphosate die EU-Gesundheitskommissarin Stella Kyriakides über die Studie und forderte sie auf „die beschleunigte Wiederzulassung von Glyphosat auf der Grundlage der dargelegten Beweise zu stoppen und das Vorsorgeprinzip anzuwenden, das den Kern des EU-Pestizidrechts bildet“.
Anfang Juli hatte die EU-Lebensmittelbehörde EFSA ihre Risikobewertung von Glyphosat veröffentlicht. Darin machte sie sich die Krebsbewertung der ECHA zu eigen und sah auch ansonsten keine „kritischen Probleme“. Trotz der massiven Kritik an der EFSA-Bewertung erarbeitete die EU-Kommission umgehend einen Vorschlag für eine erneute Zulassung. Dieser soll nun am 22. September mit den Mitgliedstaaten im zuständigen Ausschuss (ScoPAFF) besprochen und im Oktober verabschiedet werden. Gleichzeitig teilte die EFSA auf ihrer Glyphosatwebseite mit, dass sie die Hintergrunddokumente für ihre Bewertung erst bis Mitte Oktober veröffentlichen werde. Das heißt, eine detaillierte Auseinandersetzung mit der Bewertung der EFSA kann erst dann stattfinden, wenn nach dem Willen der EU-Kommission Glyphosat bereits neu zugelassen ist. Stop Glyphosat spricht in seinem Brief an Kyriakides deshalb von einem „überstürzten Zeitplan“ und einer „Abweichung von demokratischen Verfahren“. Der Öffentlichkeit und der wissenschaftlichen Gemeinschaft bleibe wenig bis gar keine Zeit, die Tausende von Seiten umfassenden Dokumente zur EU-Bewertung von Glyphosat zu prüfen. Dies sei angesichts der bereits jetzt festgestellten schwerwiegenden Mängel „besorgniserregend“.
Im ScoPAFF muss sich auch Deutschland zum Neuzulassungsvorschlag der Kommission positionieren. Im Koalitionsvertrag steht: „Wir nehmen Glyphosat bis Ende 2023 vom Markt“. Damit dies sicher umgesetzt werden kann, müsste Deutschland im ScoPAFF gegen jede weitere Zulassung stimmen. Die EU-Kommission hatte der Bundesregierung Mitte Juli ihren vorläufigen Bericht zur Neuzulassung von Glyphosat übersandt, mit Bitte um Stellungnahme bis zum 27. Juli 2023. Auf Nachfrage erklärte ein Sprecher des Bundeslandwirtschaftsministeriums (BMEL), wie bei der Wirkstoffbewertung üblich habe als federführende Behörde das Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit (BVL) Stellung genommen. Diese Stellungnahme sei mit den zu beteiligenden Bewertungsbehörden abgestimmt und vertraulich zu behandeln. Die grundsätzliche Position der Bundesregierung sei in der Stellungnahme berücksichtigt.
Der Bitte des Infodiensts, diese „grundsätzliche Position“ auszuformulieren, kam das BMEL nicht nach. Womöglich geht das auch gar nicht: Denn Koalitionspartner FDP sagte gegenüber der Tagesschau, es spreche nichts gegen eine Wiederzulassung von Glyphosat. Außerdem habe man im Koalitionsvertrag klar vereinbart, dass die Zulassung von Pflanzenschutzmitteln nach wissenschaftlichen Kriterien erfolgen müsse. Die stellvertretende FDP-Fraktionsvorsitzende Carina Konrad bezeichnete das Koalitionsvorhaben, Glyphosat zu verbieten, gar als „intellektuelle Faulheit“. Bei gegensätzlichen Positionen in der Bundesregierung wäre auf EU-Ebene eine Enthaltung üblich. Zwei Drittel der Menschen in Deutschland erwarten von Agrarminister Cem Özdemir (Grüne) etwas anderes. [lf]