Der spanische Agrarminister Luis Planas will bis Dezember, dem Ende der spanischen Präsidentschaft, im EU-Agrarrat eine Einigung über die umstrittene EU-Gentechnikverordnung herbeiführen. Das sagte der Sozialist am Dienstag bei einer Sitzung, in der über den „ausgezeichneten Vorschlag“ (Planas) der Europäischen Kommission diskutiert wurde, die Regeln für neue gentechnische Verfahren (NGT) zu lockern. Sein deutscher Amtskollege Cem Özdemir (Grüne) plädierte für einen Kompromiss, bei dem Koexistenz und Wahlfreiheit gesichert und die Frage von Patenten auf NGT geregelt werden.
Zunächst lobte EU-Gesundheitskommissarin Stella Kyriakides, die den Verordnungsentwurf am 5. Juli präsentiert hatte, erneut NGT-Pflanzen als Wunderwaffe gegen alle Übel dieser Zeit: Sie könnten Dürren und Unwettern besser widerstehen. Sie könnten gleichzeitig höhere Erträge liefern und weniger Dünger und Wasser verbrauchen. Sie seien resistenter gegen Schädlinge, wodurch Pestizide eingespart werden könnten. Belegen würden diese Behauptungen die europäische Lebensmittelbehörde EFSA sowie eine hauseigene Folgenabschätzung. Dass noch an keinem Ort der Welt solche Wunderpflanzen wachsen, schien weder die Kommissarin noch diverse Agrarminister zu stören, die diese Hymnen im Lauf der Sitzung wiederholten.
Dementsprechend drängten Länder wie Frankreich, Portugal, Dänemark und Schweden darauf, solche Pflanzen so schnell wie möglich von den Fesseln strenger Zulassungsverfahren zu befreien, wie es im Entwurf der EU-Kommission für bestimmte NGT-Pflanzen vorgesehen ist. Die EU dürfe der Welt nicht hinterherhinken, hieß es. Zahlreiche EU-Mitgliedsstaaten sehen aber auch noch deutlichen Diskussionsbedarf. So sprach sich der italienische Agrarstaatssekretär Luigi D’Eramo dagegen aus, NGT-Pflanzen, wie von der EU-Kommission geplant, in zwei Kategorien aufzuteilen. Die wissenschaftlichen Argumente der Aufteilung in gentechnische Veränderungen von mehr oder weniger als 20 Basenpaaren müsse hinterfragt werden. Auch Finnland findet die Einteilung zweifelhaft und Portugal wünscht sich eine präzisere Definition von Kategorie zwei.
Der litauische Agrarminister Kestutis Navickas plädierte dafür, die nahezu unregulierte Kategorie eins nur an NGT-Pflanzen zu vergeben, die nachweisbar positive Wirkungen haben. Für NGT 2-Pflanzen wünscht er sich klarere Kontrollen. Diskussionsbedarf sieht er auch bei der Risikoanalyse. Es sei wichtig für die Mitgliedsstaaten zu wissen, welche Gefahren von einer Pflanze ausgehen, damit sie sie gegebenenfalls auch verbieten könnten. Auch Nachbar Lettland verwies auf das Vorsorgeprinzip und forderte ebenso wie die Slowakei, jede NGT-Pflanze umfassend auf ihre Risiken zu prüfen. Nach dem EU-Entwurf sollen NGT1-Pflanzen weitestgehend so behandelt werden wie konventionell gezüchtete.
Der Vertreter Rumäniens schlug vor, öffentliche Labore einzurichten, die auf NGT-Pflanzen spezialisiert sind. Man müsse möglichst viele Äquivalenztests durchführen, um die Sicherheit der Pflanzen nachzuweisen. Dann gewinne man auch das Vertrauen der Verbraucher:innen. Zugleich müsse ihre Einführung in den Mitgliedsstaaten evaluiert werden, um zu sehen, ob die Behörden die NGT-Pflanzen unterscheiden könnten. Kroatiens Agrarministerin Marija Vučković plädierte dafür, die Forschung zu Biosicherheit auszubauen und bat dafür um finanziellen Unterstützung. Da neue gentechnische Verfahren unerwartete Konsequenzen haben könnten, müsse man vorsichtig sein. Auch Slowenien mangelt es noch an Instrumenten für ein Monitoring, welche Folgen es haben wird, NGT 1-Pflanzen kaum reguliert freizusetzen. Die Folgenabschätzung der EU-Kommission bezeichnete die Vertreterin als fragwürdig. Irland will sich ebenfalls nicht auf die Behauptung der EFSA verlassen, NGT-Pflanzen hätten keine besonderen Risiken. Der Inselstaat will die Einführung von NGT-Pflanzen beispielsweise mit ergebnisorientierten Umweltverfahren flankieren und die biologische Landwirtschaft gezielt unterstützen.
Deutschland, Griechenland, Polen und Österreich verwiesen auf die Gefahr, dass Landwirte durch Patente auf NGT-Pflanzen von den Agrarkonzernen abhängig werden könnten. Diese Frage hat die EU-Kommission in ihrem Entwurf bewusst offengelassen und will erst mal den Markt beobachten. Mehrere Staaten betonten, dass die Existenz von kleinen und mittleren Agrarbetrieben gesichert werden müsse. Das gelte auch für das Nebeneinander von ökologischer und gentechnikfreier konventioneller mit Gentechnik-Landwirtschaft. Deutschland, Österreich, Ungarn, Litauen und Polen haben hier noch Diskussionsbedarf. „Mit über 25 Prozent Biolandwirtschaft geht Österreich bereits jetzt über das Ziel des Green Deal hinaus“, sagte Botschafter Gregor Schusterschitz – als einziges EU-Land. „Diese Errungenschaften dürfen nicht gefährdet werden.“ Daher stehe Österreich NGT ebenso wie dem Vorschlag der EU-Kommission „sehr kritisch“ gegenüber.
Der ungarische Agrarminister István Nagy hob hervor, dass Ungarns Landwirtschaft sogar qua Verfassung gentechnikfrei ist. Ungarn habe 2015 von der europarechtlichen Möglichkeit Gebrauch gemacht, sich gegen den Gentechnik-Anbau im eigenen Land zu entscheiden. „Das ist eine Frage der Souveränität für uns“, sagte Nagy. „Aus diesem Grund kann ich das Verbot von Verboten auf Mitgliedsstaatenebene nicht akzeptieren.“ Nach dem Kommissionsentwurf soll ein sogenanntes „Opt out“ einzelner EU-Länder bei NGT-Pflanzen nicht mehr möglich sein. Im Übrigen wisse man noch viel zu wenig, wie solche Pflanzen wirklich zur Nachhaltigkeit beitragen könnten. Wie anderen Staaten, etwa dem traditionell skeptischen Zypern, ist ihm wichtig, dass Verbraucher:innen freie, aufgeklärte Entscheidungen treffen können.
Um all diese Fragen im Detail zu klären und rechtliche Lösungsmöglichkeiten zu finden, hat die spanische Präsidentschaft bis Dezember neun Arbeitsgruppentreffen terminiert, von denen heute bereits das zweite stattfindet. Auch bei den fünf geplanten Sitzungen des Agrarrats kann weiter über strittige Punkte diskutiert werden. Aktuell sind die Fachleute in den EU-Mitgliedsstaaten alle noch dabei, den Entwurf zu prüfen, hieß es im Agrarrat unisono. Ihm sei bewusst, dass der NGT-Vorschlag zusammen mit den geplanten Regelungen zur Pestizidreduktion (SUR) zu sehen sei, da beide Vorschläge sich ergänzen, sagte Ratschef Planas zum Abschluss der Sitzung. Offenbar gilt das von Kommissionsvize Frans Timmermans ausgerufene Verhandlungsjunktim weiter, obwohl Timmermans die europäische Bühne verlassen will, um in seiner holländischen Heimat Politik zu machen. Da die konservative EVP-Fraktion im europäischen Parlament weiter blockiert, wurde das Thema SUR im Agrarausschuss allerdings erst mal auf Oktober vertagt.
Der deutsche Agrarminister Cem Özdemir, der sich selbst zum Thema NGT bisher nicht klar positionierte, sieht seine Rolle im Verhandlungsprozess offenbar als eine Art Mediator. Er wolle sich für einen ausgewogenen Kompromiss zwischen denjenigen einsetzen, die neue Gentechnik grundsätzlich ablehnen, und denen, für die Technologien wie Crispr/Cas alle Probleme dieser Welt lösen, sagte er vor der Ratssitzung in Brüssel. Und weil es diese Fronten nicht nur in Brüssel gibt, sondern auch in seiner heimischen Ampelkoalition, setzt er darauf, dass ein solcher Kompromiss dann auch die Linie der Bundesregierung werden könnte: neue Gentechnik ja, aber mit existentiellem Schutz für die gentechnikfreie und biologische Landwirtschaft, einer geregelten Patentfrage und einem Lebensmittelangebot nach den Erwartungen der Verbraucher:innen, die bekanntlich keine Gentechnik auf ihren Tellern wollen. In diese Richtung wolle er im Agrarrat verhandeln, sagte der Grünenpolitiker. Sollte er nicht zugleich die zerstrittene Berliner Ampel einigen können, müsste er sich bei der Abstimmung über den Entwurf im Agrarrat am Ende enthalten. [vef]