Die EU-Kommission lässt für ihre Regelungspläne zu neuen gentechnischen Verfahren (NGT) bereits eine Folgenabschätzung erarbeiten. Der Fragebogen dafür ging nur an ausgewählte Stakeholder und zeigt, dass die Pläne der Kommission weiter reichen könnten, als bisher von ihr behauptet. Die sieben abgefragten Szenarien umfassen eine komplette Deregulierung für NGT-Pflanzen, die „auch auf natürlichem Wege oder durch konventionelle Züchtung gewonnen werden können“. Erleichterungen könnte es auch für Pflanzen geben, die „erwünschte Auswirkungen auf die Nachhaltigkeit“ haben. Zudem lässt der Fragebogen erkennen, wie sich die Kommission Details ihrer neuen Regelungen vorstellt.
Veröffentlicht hat den 53-seitigen Fragebogen die gentechnikkritische Plattform GMWatch. Die „zielgerichtete Befragung“ soll in eine Studie einfließen, die wiederum Grundlage für die Folgenabschätzung ist, die jeden Verordnungsvorschlag der EU-Kommission begleitet. Erarbeiten wird diese Studie ein „unabhängiges Konsortium von Forschungsinstituten unter der Leitung der Technopolis Group“, heißt es im Vorwort der Befragung. Grundlage sind sieben offensichtlich von der EU-Kommission, Generaldirektion Gesundheit, vorgegebene und erläuterte Szenarien. Die Befragten sollen einschätzen, welche Folgen sich daraus für den Zeitraum 2030 bis 2035 ergeben könnten, im Vergleich zu einem unveränderten EU-Gentechnikrecht. Aspekte dabei sind Kosten von Genehmigungsverfahren ebenso wie Koexistenz, Marktentwicklungen oder Erntemengen.
Für die Änderung des Gentechnikrechts beschreibt der Fragebogen zwei Szenarien: A1 entspricht in etwa dem, was hohe EU-Beamte bisher als offizielle Planung beschrieben haben. Es soll für NGT-Pflanzen, denen kein fremdes Erbgut eingefügt wird, eine dem jeweiligen Produkt angemessene Risikobewertung geben. Eine Nachweismethode für die Veränderung muss vorgelegt werden. Aber die Methode muss nicht belegen, ob es sich um eine gentechnische oder natürliche Veränderung handelt – sofern dies technisch unmöglich ist.
In den Erläuterungen zu A1 heißt es, dass die Verordnung selbst, der Basisrechtsakt, die allgemeinen Grundsätze für die Risikobewertung enthalten soll, sowie Kriterien, anhand derer Art und Umfang der für die Bewertung notwendigen Daten bestimmt würden. Spezifische Datenanforderungen für die verschiedenen Risikostufen sollen dann in untergeodneten Rechtsvorschriften und EFSA-Leitlinien festgelegt werden. Als angedachte Kriterien nennt der Fragebogen die Neuartigkeit der genetischen Veränderung, deren Ausmaß und die verwendete Technik. Relevant ist auch, ob im Endprodukt genetisches Material vorhanden ist, das außerhalb des Organismus hergestellt wurde. Berücksichtigt werden soll ebenso, ob die Pflanze neue Proteine bildet, bisher gebildete Proteine wegfallen oder sich die Pflanze optisch verändert.
Weiter geht die Kommission in ihrem Szenario A2: Darin werden NGT-Pflanzen, die „auch auf natürlichem Wege oder durch konventionelle Züchtung gewonnen werden können“, von jeder Risikobewertung und Nachweisregelung ausgenommen. Der Fragebogen nennt als „Arbeitsbasis für die Folgenabschätzung“ acht Kriterien, die eine NGT-Pflanze erfüllen müsste, um von allen Regelungen freigestellt zu werden. Dazu zählt der Nachweis, dass diese Veränderung tatsächlich in anderen Pflanzen der jeweiligen Art oder einer mit ihr kreuzbaren Art vorkommt. Sie darf nicht darauf abzielen, die Expression eines bestehenden Gens über die natürliche Variation hinaus zu verändern. Auch darf die Veränderung eine – nicht näher definierte – Zahl von Basenpaaren nicht überschreiten. Der Hersteller einer solchen Pflanze müsste sie vorab bei der EU-Lebensmittelbehörde EFSA anmelden. Diese soll prüfen, ob alle acht Kriterien eingehalten sind und die Kommisison würde in diesem Fall die Planze freigeben.
In den Szenarien B1 bis B3 führt die Kommission ein Nachhaltigkeitslabel für NGT-Pflanzen ein. Es soll jeweils deutlich machen, welchen Beitrag zur Nachhaltigkeit das geänderte Erbgut leistet. Als Beispiele nennt der Fragebogen Pflanzen, die weniger Pestizide oder Dünger brauchen, widerstandsfähiger gegen Trockenheit, Krankheiten oder Schädlinge sind oder ein verbessertes Nährstoffprofil aufweisen. Auch stabilere Ernten oder größere Früchte würden ausreichen, um als nachhaltig klassifiziert zu werden. Der Fragebogen lässt offen, ob die Klassifizierung dezentral durch nationale Behörden oder zentral über die EFSA geschehen soll.
Im Szenario B1 würde dieses Label die entsprechenden NGT-Pflanzen zusätzlich auszeichnen; an Gentechnikkennzeichnung und Nachweispflichten würde sich nichts ändern. In Szenario B2 würde die Gentechnikkennzeichnung wegfallen, die Pflanze müsste lediglich in ein öffentliches Register eingetragen werden. Die Nachweispflichten wären unverändert. Im Szenario B3 würde für die NGT-Pflanzen aus Szenario A2 ebenfalls jegliche Gentechnikkennzeichnung wegfallen und durch den Eintrag in ein öffentliches Register ersetzt – unabhängig davon, ob die Pflanze ein Nachhaltigkeitslabel trägt.
Das Szenario C1 sieht vor, dass nachhaltig eingestufte NGT-Pflanzen Vorteile im Prüfungsverfahren bekommen, etwa geringere Gebühren oder eine schnellere Verfahrensdauer. Szenario C2 schließt NGT-Pflanzen aus, deren Änderung Nachhaltigkeitszielen widersprechen. Herbizidtolerante Pflanzen werde nicht explizit genannt, lediglich Pflanzen, „die zu einem Mehrverbrauch an Pestiziden führen“.
GMWatch wies darauf hin, dass die Szenarien A2 und B3 dem entsprächen, was Gentechkonzerne fordern und was derzeit in Großbritannien schon als Gesetzesvorschlag auf dem Tisch liege. Für die gentechnikfreie Lebensmittelwirtschaft seien die Pläne der Kommission eine Katastrophe, sagte gegenüber GMWatch Heike Moldenhauer, Geschäftsführerin von ENGA, dem europäischen Verband der gentechnikfreien Lebensmittelwirtschaft. Ungeprüfte und unsichtbare gentechnisch veränderte Organismen würden „ihren Weg auf die europäischen Felder, in die Supermarktregale und auf die Teller der Verbraucher finden – unwiderruflich“. Die Fraktion Grüne/EFA im Europäischen Parlament erinnerte die Kommission in einem Schreiben an das Urteil des Europäischen Gerichtshofes. Demnach dürften neue Gentechniken nicht aus dem EU-Gentechnikrecht ausgeschlossen werden, bevor sie nicht eine Reihe von Anwendungen durchlaufen und ihre Sicherheit unter Beweis gestellt hätten. [lf]